08 Februar 2017

UNTER DIE RÄDER GEKOMMEN - Die Geschichte von Nesrin

Seit vier Monaten begleite ich über eine Hilfsorganisation eine junge afghanische Frau. Damit ihre Anonymität gewahrt bleibt, nenne ich sie hier Nesrin.

DIE GESCHICHTE VON NESRIN
 
Nach ihrer Ankunft in Deutschland vor gut einem Jahr verbrachte Nesrin mit ihrem Mann die ersten Monate in einem leergeräumten Baumarkt im Süden von Hamburg. Danach kam sie in ein überfülltes Containerdorf am anderen Ende der Stadt. Immerhin mit einem abschließbaren Zimmer. Dort besuche ich sie regelmäßig.
Im Herbst letzten Jahres brachte sie eine Tochter zur Welt.
 
Was ich in den letzten Monaten mit Nesrin erlebt habe, hat mich oft sprachlos gemacht. Natürlich waren da ihre Geschichten von der Flucht aus Afghanistan. Sie musste das Land wegen Androhung einer Zwangsheirat und einem innerfamiliären Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten verlassen. Zuerst nach Indien, dann auf Grund von anhaltender Verfolgung über das Mittelmeer nach Deutschland. Trotz allem haben Nesrin und ihr Mann es geschafft, erfolgreich ein BWL-Studium in Neu Delhi abzuschließen.
Beide sprechen fließend englisch und sind erst 23 Jahre alt.
 
Natürlich sind die Erzählungen von Nesrin über die Umstände ihrer Flucht dramatisch. Was mich allerdings vielmehr erschreckt, sind die Bedingungen, unter denen sie jetzt hier in Deutschland leben muss. Um eine Vorstellung davon zu bekommen, beschreibe ich hier in Eckpunkten aber sehr verkürzt,
was ich seit vier Monaten mit Nesrin erlebt habe.
 
Da Nesrin einen akademischen Abschluss hat und in Indien eine Zeitlang als Dolmetscherin gearbeitet hat, ist ihr hier eine Integrations-Maßnahme speziell für Frauen angeboten worden, an der sie hätte teilnehmen können. Sie bräuchte dazu lediglich eine Bestätigung von der zuständigen Agentur für Arbeit. Um diese Bestätigung zu bekommen, bin ich mit ihr zu der nächstliegenden Agentur gefahren. Dort wurden wir mit unserem Anliegen von einer Sachbearbeiterin zur nächsten geschickt und es hat mich sehr viel Mühe gekostet, dass sich überhaupt irgendjemand zuständig fühlte und sich genauer mit der Integrations-Maßnahme befasst hat. Nach einigen Stunden wurde unser Anliegen an die Zentrale in Hamburg Mitte weitergeleitet. Nesrin sollte auf einen Termin warten, der ihr über den Postweg zugesandt wird. Drei Wochen später hatten wir endlich den erhofften Termin bei einer Sachbearbeiterin, die als kleines Mädchen aus Afghanistan nach Hamburg geflüchtet ist und somit die afghanische Muttersprache Dari beherrscht. Allerdings ist sie selber nie in Afghanistan gewesen und ihr Dari ist so schlecht gewesen, das Nesrin sich nur mit Mühe verständlich machen konnte. Eine Tatsache, die von außen kaum erkennbar war und an der sicherlich viele andere afghanische „Kunden“ verzweifelt sind. Die Sachbearbeiterin hört sich alles an, gab uns ein paar Aufträge mit, die sie für eine Weiterbearbeitung des Anliegens bräuchte. Sie gab uns eine E-mail-Adresse mit, an die wir die erforderlichen Unterlagen dann schicken sollten und entließ uns mit dem Versprechen, sich weiter zu kümmern und einen baldigen, zeitnahen Termin zu vereinbaren. Wir hatten die erforderlichen Unterlagen schnell zusammen. Es stellt sich jedoch heraus, dass die angegebene E-mail-Adresse der Sachbearbeiterin erstens privat und zweitens falsch gewesen ist. Da sie so weder telefonisch noch per E-mail erreichbar war, hatten wir von unserer Seite aus keine Möglichkeit mehr, mit ihr in Kontakt zu treten. Wir mussten darauf warten, dass sie aktiv wird und sich wieder meldet – und das, obwohl die Zeit drängte und die gewünschte Integrationsmaßnahme schon angefangen hatte.
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Die Sachbearbeiterin hat sich nicht mehr bei Nesrin gemeldet.
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Seit der Geburt ihrer Tochter hatte Nesrin starke Schmerzen. Das Sozial-Management ihrer Unterkunft organisierte für sie die notwendigen Arzttermine. Trotz ihrer starken Schmerzen lagen diese aber Wochen entfernt. Ein engagierter Arzt von der Notaufnahme eines Krankenhauses, in das sie aufgrund der anhaltenden starken Schmerzen gehen musste, veranlasste eine MRT, um nach den Ursprung der Schmerzen suchen zu können. Leider hieß es am nächsten Tag, dass ihr Aufenthaltsstatus nur noch bis März gelte und daher auch das MRT bis dahin nicht gemacht werden könnte.
Sie solle trotz ihrer starker Schmerzen einfach abwarten. 
 
Erst nach wiederholten Einlieferungen in die Notaufnahme, bei denen sie jedes Mal eine stundenlange intensiv-intravenöse Schmerzbehandlung bekam, wurde eine Darmspiegelung gemacht. Dabei wurde eine hochgradige Entzündung festgestellt und endlich die richtigen Medikamente verabreicht. Nach drei Monaten Schmerzen.
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Das ist nur ein kleiner Ausschnitt von den Dingen, die ich mit Nesrin erlebt habe. Ich habe mich selten so ohnmächtig gegenüber Ämtern, Ärzten und Behörden gefühlt. So ein Verhalten kenne ich als Deutsche hier in Deutschland nicht. Ich war entsetzt, fassungslos. Aus dieser Fassungslosigkeit heraus entstand die Idee zu der Installation:
 
UNTER DIE RÄDER GEKOMMEN
Visualisierung einer Ausstellung
Beschreibung
Zu sehen sind Aufnahmen im Hochformat von den Orten, an denen ich mit Nesrin gewesen bin. Flure der Agentur für Arbeit, Flure von der Notaufnahmen, Flure von Erstunterkünften, Flure von Wartesälen. Viele Flure überall dort, wo Menschen wie Nesrin nach Hilfe suchen, warten müssen, vertröstet werden.
Hochkant wie die großen Plakate, die für das iPhone 6 werben. Sie sind an vielen Hausfassaden zu sehen mit dem Slogan „Fotografiert mit einem iPhone 6“. Im Internet werden Bilder dieser Kampagne unter der  iPhone 6 world Gallery präsentiert.
Über diese Foto-Aufnahmen werden alte Autoreifen montiert, als Ausdruck des ohnmächtigen Gefühls, buchstäblich „unter die Räder“ gekommen zu sein.
 
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Meine blog-Einträge werden mit Zeichnungen von geflüchteten Menschen begleitet,
die in Hamburg angekommen sind. Sie sind auf
Kunstaktionen vor ihren Notunterkünften entstanden.
Es ist mir eine große Ehre, dass ich dabei fotografieren durfte.
DANKE!

Viele Kinder und Erwachsene malen und zeichnen Bilder von ihrer Überfahrt in den Westen.
Auch Nesrin ist über das Mittelmehr geflüchtet. Eng aneinandergedrängt,
vollkommen durchnässt und die ganze Zeit schreiend vor Angst.